An allem ist in dieser Gegend Mangel
 

Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim 

                                        7. August 1772

In Koburg schrieb ich Ihnen, während meiner Reise nach
meiner Heimath,  hier wollte  ich  Ihnen  alles  in  Ruhe 
schreiben, aber leider bin ich hier in einer größern Verwir- 
rung, als ich auf meiner Reise war.
Eine Viertelstunde Wegs von Langenwiesen, meinem Ge-
burtsorte,  erfuhr  ich  erst,  daß das,  was der  vorjährige
Brand davon  übrig gelassen hatte,  von einem neuen vor
einigen Tagen vollends verzehret worden sei.  Das  Haus
meines Vaters mit allem,  was darinnen war,  sammt den
schönen  Bäumen in  seinem  Garten,  das Haus meiner
Schwester,  eines gutherzigen Mädchens,  und noch einige
meiner Verwandten,   sind gänzlich von der Flamme ver-
zehrt worden.Das Feuer brach um Mitternacht los, wo je-
dermann im ersten Schlafe begraben lag,  und es brannte
schon überall, ehe man es gewahr wurde. Nichts hat mein
Vater gerettet als sein Clavier und einige von seinen lieb-
sten Büchern. Alles  ist  über  diesen  Vrlust untröstlich,
außer mein Vater bedarf keines Trostes,  einer von den be-
sten Menschen,  die  ich  kenne;  immer ruft  er den abge-
brannten  Erdenkindern  zu:     Kummer  im  Herzen  ist
schlimmer,  als alle abgebrannten Häuser der Welt !  und
melius est pati, quicquid corrigere est nefas;  und nur noch
der Verlust von seinen Bäumen ist ihm empfindlich, die er 
alle mit eigner Hand gepflanzt hatte.
  Die  Paar  Wohnungen,  welche  noch  übrig  geblieben, 
sind  so  voll von  bekümmerten Leuten, daß  ich  auf  dem 
obersten Boden schlafen muß, weil ich einsam, ohne Seuf-
zer zu hören,  schlafen will:  so daß Herr Diogenes in sei-
nem  Fasse  einen   Vice-Sultan  gegen  mich  vorstellen
könnte: und wenn  ich  was schreiben will,  so  geh´ ich  in
den Wald. Eben sitze ich hier unter einer großen Eiche auf
dem Moose und schreibe Ihnen dieses.
  An allem ist in dieser Gegend Mangel, und ich habe die
zwei  Pistolen, welche  ich  mir  von  Ihrem Opfer erspart
hatte,  von  meinem  erschütterten  Herzen beinahe gänzlich
herauslocken lassen.
   Alle meine Landsleute essen mit den Hirschen und Re-
hen,  ihren  Vettern,  Basen  und  Blutsverwandten,  das
Kraut auf dem Felde:   und vielen davon ist das angeborne
Recht der Selbsterhaltung so sehr verwehrt, daß sie sich es
stehlen müssen (...)
 Unmöglich  kann  ich  lange  in  dieser  Gegend  bleiben:
der Schmerz über  das  Elend meiner Nebenmenschen wird
mir  täglich  unausstehlicher, da ich  ihnen  mit nichts als
Trost und Rath helfen kann. Alles ist in Verzweiflung !
  Wenn ich Neigung hätte,  ein kleiner Theseus zu werden,
so dürfte ich mich nur an die Spitze einer Colonie von tau- 
send Jünglingen  und  Männern stellen und sie nach Un- 
garn führen,  wo  wir  willkommen  sein,  und von Joseph
Land und Wohnung bekommen würden.  Die meisten dar-
unter verstehn  die  Musik,  und können auf ein Haar mit
ihrem  Schießgewehr  treffen.  Beinahe  glaube  ich  auch,
daß  ich  ihnen  eine bessere Religion und ein feineres Ge-
fühl  ins  Herz  lehren  wollte. Sie  folgten  mir  bis  ans
schwarze  Meer,  wenn  ich  ihr  Anführer zu werden mich
entschlösse.
  Sie fangen an,  bei  den  entsetzlichen  Drangsalen, das
Recht  der  Menschheit  zu  fühlen. Ich brauchte kein Or-
pheus zu sein,um den ganzen Thüringer Wald nach mir zu
ziehen.
  Ich gehe ihnen mit Rath und That an die Hand, so sehr
ich kann.  Jetzt fällen sie Holz, um sich einige Hütten auf
den Winter, und Ställe für ihr Vieh zu bauen;  am Feier-
abend setze ich mich  dann zu ihnen,  und  erzähle  allerlei
Geschichtchen  aus  der  alten  und neuen Welt, und dann
müssen sie ihre  Geigen und Flöten holen,   und  sich  die
Grillen und den - Hunger verspielen.  Die Geschicktesten
unter  ihnen  werden  uns  aber  nächstens verlassen, und
sich auf  den Weg in  andere glücklichere Welttheile ma-
chen. - Die Regierung vom Thüringer Walde beschäftigt
sich nur damit, dessen Wildpret zu erlegen,  und alte und
neue  Abgaben  von  den armen brodlosen Einwohnern zu
erpressen. Die armen Teufel merken jetzt erst den Nutzen,
daß ihre Urväter sich in Gesellschaft begeben haben.

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Quelle:  Aus Wilhelm Heinse, Sämtliche Schriften, 
Leipzig 1838, Band 10, Seite 60ff.


 
 


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